Öffi-Fahren ist gut für Asketen

Replik auf die Kolumne “Autofahren ist gut fürs Hirn” von Helmut A. Gansterer vom 16.9.2005 in DerSTANDARD

Jahrelang habe ich mich gefragt, was das entrückte Lächeln im Gesicht der Autofahrer bedeutet, die am Gürtel im Stau stehen. Helmut A. Gansterer hat’s endlich verraten. “Hier findet mich keiner”, denken sie glücklich hinter dem Lenkrad. Nur wir Öffi-Nutzer kleben unsere frustgezeichneten Gesichter neidvoll an die Fensterscheiben der U-Bahn, während wir an der Autokolonne vorbeifahren. In der einen Hand haben wir die zusätzliche Abendkleidung, in der anderen Hand das Flipchart, in der dritten den Beamer und die Aktentasche balanzieren wir auf dem Kopf.

Wir miesepetrigen Antihedonisten. Dabei hätten wir doch in der Summe der Sinnlichkeiten namens Auto genügend Platz dafür. Die Designer haben alles schon vorbereitet. Da stellst Du die Trinkflasche rein, das ist die Aufhängung für den Anzug, hier ist das Beamer-Fach und dort drüben die Ablagefläche für die Hör-Literatur-CD “Helmut A. Gansterer lacht über seine eigenen geschliffenen Kolumnen”.

Stattdessen werden wir in U- und Straßenbahn von DJ Ötzi dauerberieselt, kennen Literatur und gute Weine nur von unserem autofahrenden Bekanntenkreis, und genieren uns, weil wir keine so intensiven Folgeschäden verursachen wie der automobilistische Individualverkehr. Damit hat Wirtschaft und Gesundheitswesen viel weniger wieder gutzumachen, also sind wir verantwortlich für weniger Arbeitsplätze, Armut, Terror und die Barbara Karlich Show.

Sollten wir grünverseuchten Dillos dann doch mal wohin fahren müssen, wo der liebe Gott der Verkehrsplanung keine Haltestelle gepflanzt hat, dann naschen wir vom Baum der bösen Erkenntnis, und knattern mit der rostigsten Rostschüssel, die wir auftreiben können, herum. Nicht ohne uns vorher beim Billa mit Tafelwein im Tetrapak eingedeckt zu haben. Und wir warten, bis man uns endlich einen Linienflug von Wien-Pötzleinsdorf nach Wien-Innere Stadt einrichtet.

Veröffentlicht in DerSTANDARD am 27.09.2005


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